Ein höllisch guter Techniker

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So viele ordinäre Menschen leben auf dieser Welt. So viele, die jeden Tag ihren Alltag bestreiten. So einen ordinären Alltag. Auf der anderen Seite gibt es die »Feuerwehrleute« in Unternehmen. Die, die sich jeden Tag mit den ordinären Wehwehchen der Technik herumschlagen – auch wenn das Problem manchmal eher vor dem Bildschirm sitzt als dahinter. (Entschuldige, wenn ich an dieser Stelle von mir auf andere schließe.) Und unter all diesen umgangssprachlichen »Feuerwehrleuten«, die nie auch nur ein einziges echtes Feuer löschen, gibt es Egon. Egon Schienle, seines Zeichens IT-Hilfsdienst bei einem großen Unternehmen, das an dieser Stelle lieber anonym bleiben möchte. Nennen wir es der Einfachheit halber T. Aber Egon arbeitet nicht nur bei T, er hat auch noch einen außergewöhnlichen Nebenjob. Nun, bevor ich dich hier mit Beschreibungen langweile, schauen wir doch in Egons Büro vorbei und sie es dir selbst an:

Drei schwarze Computerbildschirme thronen auf einem schweren Holztisch, dahinter ein Regal, vollgestopft mit Ordnern, Tastaturen und Kabeln. Das Licht ist aus und die Sonne taucht alles in friedliches Licht. Das Zimmer ist verlassen und auch auf dem Gang herrschte Stille.

Egon? Wo ist er denn? Oh, ich habe ganz die Zeit vergessen. Es ist Sonntagmorgen, da ist er natürlich nicht im Büro. Nun, dann besuchen wir ihn mal zuhause.

Egon kämmt das akkurat gestutzte, leicht angegraute Haar nach hinten und fährt sich über den Schnurrbart. Er schiebt die Hornbrille hoch und betrachtet sich ein letztes Mal im Spiegel. Dann stimmt er zufrieden ein Liedchen an und tänzelt leichtfüßig aus dem Bad.

»Möchtest du ein zweites Ei zum Frühstück?«, ruft sein Mann aus der Küche.

Egon öffnet den Mund zur Antwort, als sich im Fußboden unter ihm plötzlich ein Loch auftut. Bevor es ihn verschluckt, schafft er noch ein entnervtes Schnauben. Dann ist er weg.

»Egon?« Markus steckt den Kopf in den Gang. An der Stelle, an der er seinen Mann erwartet hat, liegt nur einen Kreis aus Asche. Er verdreht genervt die Augen. »Schon wieder?«

Das Schnauben folgt Egon bis an seinen Zielort. Dort öffnet sich ein Loch in der Decke und spuckt den IT-ler aus. Gekonnt und ächzend landet er auf den Füßen und geht leicht in die Knie, um den Schwung irgendwie abzufedern. Diese Transportart schlaucht seine armen Knie immer mehr.

»Guten Morgen Thot, was ist es diesmal?« Er nickt dem ägyptischen Gott der Schreiber grüßend zu, der den Empfang des Jenseits‘ leitet. Der Reiherkopf des Gottes erschreckt ihn zum Glück schon lange nicht mehr.

»Ist es noch Morgen? Entschuldige, Egon. Du weißt, wir haben hier unten keine Möglichkeit, die Zeit in der Welt der Lebenden im Blick zu behalten«, trötet der Gott.

Egon dreht sich um und blickt auf sechs große Uhren, die alle dieselbe Zeit anzeigen. Einmal hat er eine nach seiner Armbanduhr gestellt, aber sie war sofort zurück auf Jenseitszeit gesprungen. Wozu man aber sechs Uhren braucht, die die hiesige Uhrzeit anzeigen – die immerhin vier Uhrzeiger braucht – erschließt sich ihm bis heute nicht. Aber er fragt auch nicht mehr nach.

Egon stützt sich auf den dunklen Tresen aus Kirschholz. »Also, was gibt es?«

Thot dreht sich zur Seite und klopft auf einen grauen Kasten. »Der Computer erkennt meinen Drucker schon wieder nicht. Könntest du dir das nochmal ansehen?«

Er kommt um den Tresen herum und setzt sich auf einen freien Hocker. »Hast du wieder versucht, in einer anderen Abteilung etwas auszudrucken? Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du das nicht mehr machen sollst?« Egon fährt sich durch die Haare, sodass sie ihm wild vom Kopf abstehen. Dabei hatte er sie gerade erst zurecht gekämmt.

»Aber Tod hat so süße Fotos von Hatty geschickt und mein Drucker kann nur schwarz-weiß.«

Egon bewegt die Maus und ein Foto einer friedlich schlafenden, rot gestromerten Katze erscheint auf dem Röhrenbildschirm. Ein hingebungsvolles Seufzen entfährt dem Techniker. »Na gut. Ich verzeihe dir aber nur, weil es um Hades geht. Sie ist einfach zu süß. Wo steht denn der Farbdrucker?«

»In der Aufnahmeabteilung. Der Aktendrucker dort macht wunderschöne Fotos. Aber selbst das hat nicht funktioniert.«

Egon wechselt einen Blick mit dem Gott, dann schickt er den Druckauftrag an den Aktendrucker und richtet dann wieder den Empfangsdrucker ein. Der Techniker blickt an die Decke. Drei … zwei … Unter ihm tut sich wieder ein Loch auf.

Dieses Mal landet Egon in der Aufnahmeabteilung, drei Stockwerke westlich vom Empfang. Er hat nie verstanden, warum das Jenseits in Himmelsrichtungen und Stockwerksanzahl rechnet, aber er hat ein einziges Mal einen Lageplan der Verwaltungszentrale gesehen und sich sehr an einen wirren Schaltkasten erinnert gefühlt. Damals hatte er um den Teleportruf gebeten, der bei jedem Ruf das Loch unter ihm öffnet und ihn in die eine Abteilung bringt, die ihn braucht. So kann er sich immerhin nicht im Jenseits verlaufen.

»Egon!« Anubis kommt auf ihn zu. »Der Aktendrucker hat eben Fotos von Hatty ausgespuckt! Ohne Druckauftrag! Einfach so!«

Er räuspert sich und streckt die Hand aus. »Ja, ich kümmere mich darum. Kommt nicht wieder vor.«

Anubis blickt hinunter auf die Katzenfotos, dann wieder zu Egon. »Eins behalte ich hier als Beweismittel. Zur Sicherheit. Falls das wieder vorkommt.«

»Aber natürlich.« Egon verkneift sich ein Lachen. Er hat das Foto extra mehrfach ausgedruckt. Er weiß, dass Anubis‘ Schreibtisch mit Hatty-Fotos tapeziert ist. »Schickst du mich zu Thot?«

Der Gott mit dem Schakalkopf nickt und mit einem Handzeichen öffnet sich wieder das Loch unter dem Techniker. Doch als der landet, findet er sich nicht an der Rezeption wieder.

»Egon!«

Er dreht sich um und steht einer schmächtigen Person im schwarzen Hoodie gegenüber. Die Kapuze hängt so tief, dass er kein Gesicht sehen kann, aber er erkennt den Tod auch so. Aus der Bauchtasche des Hoodies lugt ein rot gestromerter Katzenkopf. Egon hält Hatty sofort die Hand hin, an der sie neugierig schnuppert.

»Kannst du dir mein Handy ansehen? Irgendwie hab ich meine Rufnummer unterdrückt und so erreich ich die Zentrale nicht.« Der Tod hält ihm ein Nokia 3210 hin. Er ist der einzige Grund, aus dem Egon vor ein paar Jahren ein Handbuch dieses alten Modells teuer antiquarisch erstehen musste. Was tut man nicht alles für die Kundschaft. Fünf Tastendrücke später ist das Problem behoben.

»Sag mal, warum trägst du denn Fotos von meiner Katze mit dir herum?« Der Tod deutet auf die Zettel in Egons Hand.

»Das … die sind für Thot.«

Er legt den Kopf schief. »Dreimal das gleiche Foto?«

»Thot … wollte eben mehrere!«

Der Tod kichert trocken. »Keine Sorge, ich hab längst gemerkt, dass du dir Fotos von ihr erschleichst.«

»Ihr bezahlt mich für diese Extraschichten eben nicht gut genug, also nehme ich mir als Trinkgeld Katzenfotos mit. Mein Mann hängt sie im Zimmer für unser Besuchskind auf. Der Junge liebt Katzen, aber ist allergisch.«

»Na wenn das so ist … Wenn du möchtest, füge ich dich zum Hatty-Newsletter hinzu. Dann gibt es regelmäßig neue Fotos von ihr.«

»Ja, unbed-« Egon wird unterbrochen, als er durch ein weiteres Loch fällt. Diesmal landet er wieder bei Thot. Er gibt 2 der 3 Fotos ab und schiebt das letzte in seine Hosentasche.

»Vielen Dank für deine Dienste, Egon.«

Der Techniker nickt. »Versucht, diesmal etwas länger durchzuhalten.« Er rutscht durch ein weiteres Loch und wird zielgenau an seinen Esstisch gebracht.

Markus springt mit einem spitzen Schrei auf, als sein Mann direkt neben ihm aus der Decke fällt.

»Ich werde mich nie daran gewöhnen!«, schimpft Markus.

»Hier, ich hab etwas, um dein Gemüt zu beruhigen.« Egon zieht das Foto aus seiner Tasche, legt es auf den Tisch und setzt sich.

»Oh, dieses süße Ding!«

»Der Tod hat angeboten, mich in den Hatty-Newsletter aufzunehmen. Also bekommen wir bald sehr viele Katzenfotos.« Egon lächelt und greift nach einem Brötchen.

»Das ist ja schön. E-Mails aus der Hölle. Das kann außer uns auch niemand erzählen. Weswegen haben sie dich denn diesmal gerufen?«

Egon schneidet sein Brötchen auf und beginnt zu erzählen.

Das muss die Saison der Katharina Spiegel sein

CW: Sexismus, Rassismus

Ein Herbstwald, im Vordergrund eine Person von hinten mit langen Haaren, einem spitzen Hut, einem schwarzen Umhang und einem Besenstiel in der Hand.
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Es war einmal vor langer Zeit eine Hexe. Na gut, das ist übertrieben. Die Hexe unserer Geschichte war damals Ende 20, trug am liebsten Jeans und Band-T-Shirts und arbeitete in der Buchhandlung um die Ecke. Weil sie Heilzauber beherrschte, war sie eine der Ersthelferinnen; weil sie Feuer ersticken konnte, war sie auch Brandhelferin; und weil sie in die unmittelbare Zukunft sehen konnte, gingen an der Kasse niemals die Thermopapierrollen für die Belegdrucker aus.

Nun könnte man sagen, sie wäre zu Höherem berufen gewesen. Das wusste sie. Sobald ein Dämon oder der Weltuntergang am Laden vorbeiginge, wäre sie bereit, die Brille abzusetzen wie Supergirl. Nur, dass unsere Hexe tatsächlich schlecht sah und ihre Brille besser wieder aufsetzen sollte, bevor sie statt des Weltuntergangs den Dackel vom alten Herrn Braun erwischte. Wobei sie den alten Mann sowieso noch nie gemocht hatte. Er war Stammkunde, aber deswegen nicht weniger unangenehm. Er kam ihr und ihren Kolleginnen immer zu nah und ließ in einer zermürbenden Regelmäßigkeit rassistische Sprüche über eine der dunkelhäutigen Kolleginnen fallen. Alina und Imke wehrten sich verbal, aber er lachte nur. Daher hängte unsere Hexe ihm manchmal Durchfall an, um es ihm heimzuzahlen. Aber Herr Braun stellte die Verbindung zwischen dem einen und dem anderen nie her und so lief die pädagogische Maßnahme immer ins Leere. Trotzdem würde unsere Hexe dem Tier nichts tun. Tiere können nur selten etwas für ihre Besitzer, das wusste sie.

Lieber hatte unsere Hexe den netten Herrn Sommer. Sein Nachname spiegelte sein Gemüt. Er war immer fröhlich, pfiff ein Liedchen vor sich hin, wenn er die Buchhandlung betrat, und quatschte mit allen Kolleginnen. Er war Rentner und hatte sehr viel Zeit für seinen Einkauf. Herr Sommer schlenderte stundenlang durch den Laden, sah sich von Kinderbuch bis Sachbuch jede Neuerscheinung an und kaufte am Ende eine Biographien, die er dem Bild seiner verstorbenen Frau vorlas. Er hasste Biographien, aber sie hatte sie geliebt.

Unsere Hexe liebte ihre Arbeit, aber manchmal, wenn sie nachts mit ihrer weißen Katze Tabby auf den Balkon ihrer Wohnung saß und die wenigen Sterne betrachtete, deren Strahlen es durch den Lichtsmog der Stadt schafften, kam sie sich unwichtig vor. Wozu hatte sie diese besonderen Fähigkeiten? Wozu hatte sie sie trainiert, wenn dann doch kein böser Geist die Stadt in Atem hielt? Sie dachte immer, sie wäre wie die Protagonistinnen in den vielen Fantasyromanen in ihrer Jugend. Hatten diese Bücher gelogen? Dabei hatte sie durch diese Geschichten hin und wieder etwas über sich gelernt. Oder über ihre Fähigkeiten. Und trotzdem war sie noch keinem Dämon begegnet. Obwohl jedes Buch sagte, dass – was? Der Name unserer Hexe? Entschuldige, ich war schon so im Reden, dass ich das vergessen habe. Sie hieß Katharina Spiegel. Ihre Freundinnen – wie ich eine war – nannten sie Kathi – mit einem langen a, darauf bestand sie.

Wo war ich? Ach ja, Kathis Jugendfantasybücher. In jedem stand, dass Dämonen sich immer auf starke Hexer*n oder Zauber*innen oder ähnliches stürzten, weil sie deren Macht spürten. Sie verfolgten sie. Der Einzige, der Kathi jemals verfolgt hatte, war Jens Baumann in der 8. Klasse gewesen, der damals über beide Ohren in sie verliebt gewesen war. Keine Sorge, er war kein Stalker, er hat sie nicht auf Schritt und Tritt beobachtet, aber in der Schule ist er ihr hin und wieder den Gang entlang gefolgt. Unwichtig zu erwähnen, dass die Liebe unerwidert blieb, denn er hat sich nie getraut, sie anzusprechen.

Katharina Spiegel hatte also irgendwann mit ihren Lieblingsbüchern gebrochen, sie ans Ende ihres großen Regals verbannt und zog sie nur noch heraus, wenn sie nach einem feuchtfröhlichen Abend rührselig wurde. Sie hatte sich der Esoterik zugewandt, testete Rituale, Salben und Räucherwerk und sagte sich, dass sie deswegen nie auf einen Dämon getroffen war. Tatsächlich entsprach das der Wahrheit. Dass Kathi ihre Kräfte so lange nicht benutzen musste, hing mit ihrer unverhofft starken Schutzmagie zusammen.

Nun würde ich die Geschichte der Katharina Spiegel – so klingt das schon etwas besser für eine Hexe, oder? – nicht erzählen, wenn ihr Leben bis an ihr Ende ruhig verlaufen wäre. Nein. Aber lass uns an dem Tag einsteigen, an dem alles begann. Zum Einstieg einmal diese wunderschöne Warnung: Be careful what you wish for, it may come true.

*

Es war eine sternenlose Silvesternacht, als Kathi – die Silvester immer alleine mit Tabby verbrachte – im Rahmen eines Raunachtrituals einen Wunsch auf einen Zettel schrieb und in einem Metallschälchen verbrannte. Auf dem Zettel standen die verhängnisvollen Worte „Ich möchte endlich meine Fähigkeiten benutzen!“.

Spulen wir zweieinhalb ereignislose Monate vor. Alles hatte seinen gewohnten Gang genommen. Kathi hatte ihre Fähigkeiten heimlich in der Buchhandlung angewandt, hatte Großeltern auf der Suche nach dem richtigen Taufgeschenk für das Enkelkind geholfen, jugendlichen Kundinnen die neuesten Fantasytitel empfohlen, wie immer waren kleinere Malheure passiert, und die schwierigsten Kundininnen kamen wie immer um die Zeit des Vollmonds.

Es gab keine besonderen Vorkommnisse bis zum Frühlings-Äquinoktium – ich könnte auch Tag- und Nachtgleiche sagen, aber Äquinoktium klingt doch besser oder? Jedenfalls fiel an diesem Tag ein Dämon in die Buchhandlung ein. Er war so stark, dass er Kathis Kolleginnen auffiel. Er kam gekleidet in einen schicken schwarzen Anzug, mit einem rot-weiß gepunkteten Einstecktuch in der Brusttasche und stützte sich schwer auf einen dunklen Holzstock. Seine Stimme war tief und er sprach mit einem leichten englischen Akzent, als er Imke, Kathis Kollegin, nach unserer Hexe fragte. Imke stotterte, so gebannt war sie von dem engelsgleichen Gesicht – seltsam, dass Dämonen immer so hübsch sind, dass man sie reflexartig mit Engeln vergleicht oder? Jedenfalls hatte er an diesem Tag kein Glück, denn Kathi hatte ihren freien Tag und besuchte ihre Mutter außerhalb der Stadt. Er sah sich etwas enttäuscht um und stöberte dann durch die Abteilung mit den Notizbüchern. Imke sah ihn den Laden nicht verlassen, aber als sie den Laden abends schloss, war er nicht mehr da.

Als Kathi am nächsten Tag zur Arbeit kam, schlug ihr die Macht des Dämons schon entgegen. Nun hätte sie schnurstracks hineingehen und den Eindringling erledigen können, aber insgeheim war unsere Kathi ein bisschen ängstlich. Sie stand daher zwei Minuten an der Eingangstür herum und kratzte ihren Mut zusammen, obwohl sie spürte, dass sie ihn besiegen konnte. Sie nahm einen letzten tiefen Atemzug und sprintete in die Notizbuchabteilung. Er hatte sich in einem wunderschönen dunkelroten Buch versteckt. Kaum hatte sie es entdeckt, floss schwarzer Rauch zwischen den Seiten heraus. Der Dämon wollte das Buch verlassen. Noch während er sich aus dem Buch zwängte, zückte Kathi ihren Schlüssel und kratzte ein Pentagramm in den Buchdeckel. Mit einem schlürfenden Geräusch wurde der Rauch wieder in das Buch gesogen. Als hätte es weh getan, zuckte es auf dem Regalbrett hin und her, aber Kathi wusste, dass die Gefahr gebannt war. Sie würde es später bezahlen und mit nach Hause nehmen.

Auf dem Heimweg pfiff sie fröhlich ein Lied vor sich hin, denn eins wusste sie jetzt: Ihre Jugendfantasybücher hatten nicht gelogen. Sie würde etwas in der Welt verändern. Sie hatte sie heute verändert, denn sie hatte einen Dämon gefangen! Als sie zuhause ankam, ließ sie den Dämon auf dem Küchentisch liegen, wo Tabby ihn beschnupperte und ihren Kopf an dem Buch rieb, und räumte die verbannten Bücher weiter nach oben ins Regal. Endlich war ihre Zeit gekommen. Die Zeit der Katharina Spiegel. Sie stellte den Dämon zu den anderen Büchern ins Regal, zog ein Naschlagewerk für paranormale Fähigkeiten heraus und begann zu trainieren.

Durch die zusätzliche Übung schaffte sie es, in der Buchhandlung noch effektiver zu arbeiten. Gab ihren Kolleginnen telepathisch Buchtipps während Beratungen – unauffällig natürlich, sie ließ es wie eine Idee aufploppen –, half Tanten bei der Suche nach dem idealen Kinderbuch für den hochbegabten Neffen, und fischte verschollen geglaubte Manga hinter den geschlossenen Buchreihen hervor.

Nun warten wir alle darauf, dass doch noch etwas passiert. Zu einem besonderen Tag wie Samhain oder dem Herbst-Äquinoktium. Eine gute Schriftstellerin würde das Datum dorthin legen, weil es sehr viel bedeutungsvoller klingt. Aber ich erzähle hier die Geschichte meiner Freundin Kathi und ich möchte sie richtig erzählen. Dazu gehört auch, dass der Dämon gar nicht wusste, dass er am Frühlings-Äquinoktium aufgetaucht war. Dass er ein für uns bedeutungsvolles Datum erwischte, war reiner Zufall.

Das Ende der Welt kam an keinem Feiertag, weder christlich noch keltisch noch anderweitig religiös. Nein, das Ende der Welt begann um Punkt 16:00 Uhr an einem schwülen Augustsonntag. Zumindest wäre es das Ende der Welt gewesen, wenn Kathi nicht zu diesem Zeitpunkt zufällig am Friedhof vorbeigelaufen wäre. Denn wenn sie eine Eigenschaft mit den vielen Romanfiguren in ihrem Regal gemein hatte, dann, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Katharina Spiegel spazierte also an diesem schwülen Sonntagnachmittag am Friedhof vorbei, als sich die Erde mit dem Geräusch eines umfallenden Baumes öffnete und die Toten sich mit klappernden Gebeinen aus ihren Gräbern erhoben. Ein Schwarm Vögel stieg hysterisch zwitschernd in den Himmel, der gellende Schrei einer älteren Dame und das hohe Bellen ihres Dackels hallten über den sonst so stillen Platz. Sofort rannte unsere Hexe durch das nächstgelegene Tor des Friedhofs und setzte all ihre Fähigkeiten ein, um die tausenden Gebeine zurück in die Erde zu schieben. Doch kaum hatte sie die Toten wieder zur Ruhe gebettet, verdunkelte sich der Himmel und Feuerregen fiel auf die Stadt. Kathi hob die Arme, um der Katastrophe Einhalt zu gebieten, und bis auf drei Funken, die in einen See fielen, konnte sie alle Flammen löschen. (Die Zeitung berichtete am nächsten Tag von einem mysteriösen Ascheregen.) Und dann – nun wir hatten es vorhin von guten Schriftstellerinnen, die hier einen spannenden Kampf eingefügt hätten – war alles vorbei. Kein Teufel erhob sich als Endgegner, keine Gottheit schwang erbost ihr Zepter, weil die Gläubigen sich zu wenig engagierten. Für Kathi war das alles sehr mysteriös. Ihre Bücher hatten von großen Schlachten erzählt, von einem Sieg in letzter Minute, schwer verletzt und am Ende der Kräfte aller Figuren. Kathi war ins Schwitzen geraten, ja, aber auch nicht mehr. Sie war nicht ausgelaugt oder verletzt. War das schon das Ende? Sie sah sich um. Die ältere Dame mit dem Dackel hatte schon im Angesicht der lebenden Skelette die Flucht ergriffen. Sonst war niemand hier. Außer der alten Dame hatte niemand mitbekommen, dass die Toten sich erheben wollten. Niemand hatte Kathis heroische Tat gesehen. Niemand würde sie feiern. Nicht so, wie in ihren Büchern, wo die Heldinnen auf den Schultern ihrer Gruppenmitglieder herumgetragen wurden. Sie wandte sich zum Gehen und hoffte darauf, dass bald wieder etwas passierte.

Kathi trainierte weiter, verlor kurz vor Weihnachten aber die Motivation. Sie beschränkte ihre Magie wieder auf ihre Arbeit im Buchladen, hängte Herrn Braun weiter Durchfall an für jede rassistische Bemerkung und plauderte mit Herrn Sommer. Sie Verbannte die Jugendfantasybücher wieder ans Regalende und stellte auch den Dämon dazu. An Silvester saß sie wieder mit Tabby am Tisch und schrieb ihren Wunschzettel. Sie versuche es mit demselben Wunsch wie im Jahr zuvor, doch ihr Alltag sollte ab sofort normal und ruhig bleiben.

Denn eins hatte sie bei all ihrer Liebe für ihre Jugendfantasybücher vergessen: Die meisten Protagonistinnen – sind wir ehrlich, es sind fast nur junge Frauen – müssen in ihrem Leben nur einmal die Welt retten und leben danach ein ruhiges Leben.

Täglich grüßt der Steuerdrache

CW: Diskriminierung, Verbrennen, Erwähnung von Entführung, Erwähnung von Verstümmelung

Es ist jeden Tag dasselbe.

Der Wecker brüllt pünktlich morgens um halb sieben und du drehst dich noch einmal um. Lässt die Pranke noch einmal auf das stahlverstärkte Gehäuse fallen, damit er in zehn Minuten ein zweites Mal plärrt. Zehn Minuten kannst du dir erlauben, bevor du die dünne Decke zurückwirfst und das Bett dein Aufstehen mit einem altersschwachen Knarzen quittiert. Du streckst dich und biegst die Schuppen gerade, die dich in die Seite piksen. Um deine Frau nicht zu wecken, schleichst du dich ins Bad, wie immer brav in einem der Pyjamas, die deine Tochter dir zum Geburtstag näht. Sogar das Loch für deinen schuppigen Schwanz hat sie perfekt getroffen. Sabines Anstellung beim Finanzamt ist in deinen Augen eine Verschwendung ihres kreativen Talents. Auf der anderen Seite bewunderst du sie dafür, dass sie mit ihren Pranken ein so filigranes Gerät wie eine Nähmaschine so präzise bedienen kann. Du wärst in ihrem Alter gern genauso kreativ gewesen, aber damals waren es andere Zeiten. Traditionellere Zeiten. Mehr Blut und Feuer und weniger Haus abzahlen und Vollzeitjob. Mehr freies Fliegen und weniger Nadelstreifenanzug, der an den Schultern spannt. Du überlegst, ob du dir zum nächsten Feiertag einen Anzug von deiner Tochter nähen lassen sollst. Für die letzten Arbeitstage, bevor du in Rente gehst. Verwirfst den Gedanken aber wieder, es wäre den Aufwand nicht wert.

Mit einem Seufzen schleppst du dich ins Bad und packst die Stahlbürste, mit der du dich jeden Tag reinigst. Erst die Reißzähne, die müssen schließlich glänzen. Danach die Schneidezähne und der Rest. Du legst die kleine Bürste weg und nimmst die Stahlwolle in die Pranken, die fein säuberlich in der Seifenschale liegt. Während du unter die Dusche steigst und deine alten Schuppen so gut es geht, mit der Stahlwolle schrubbst, hörst du deine Frau Friedl aus dem Schlafzimmer kommen und zum Zimmer deines Sohnes Dennis gehen. Er muss pünktlich aufstehen und er belegt morgens das Bad immer für eine kleine Ewigkeit. Also beeilst du dich mit deiner Morgenwäsche, so wie jeden Tag. Würdest du nicht die zehn Minuten länger liegen bleiben, hättest du mehr Zeit im Bad, aber das alles ist schon so lange Routine, dass du es in den letzten Wochen auch nicht mehr ändern willst. Bald hast du genug Zeit, kannst schlafen, bis Dennis wieder aus dem Bad heraus ist und dich dann in aller Ruhe fertig machen. Bald kannst du das Leben genießen, zumindest sagen deine Kollegen das.

Bis du dich trocken geschüttelt und dich in deinen Nadelstreifenanzug gequetscht hast, hat Friedl euren Sohn geweckt, ihn ins Bad geschoben und den Frühstückstisch gedeckt.

„Du brauchst endlich einen neuen Anzug“, sagt deine Frau wie jeden Morgen.

Und wie jeden Morgen antwortest du: „Liebling, ich gehe bald in Rente. Der nächste Anzug, den ich kaufe, ist für meine Beerdigung.“

„Und ich dachte immer, dass du dich traditionell in einen Vulkan fallen lässt, wenn du den Tod kommen spürst“, frotzelt deine geliebte Friedl.

„Wenn du mit deinem hübschen Feuer einen Vulkan für mich aktivierst, werde ich darüber nachdenken“, antwortest du zwinkernd. Diese kleinen Wortgefechte liebst du so an eurer Ehe, auch wenn ihr euch seit Monaten dasselbe an den Kopf werft.

„Beeil dich, Dennis, der Schulbus kommt in ein paar Minuten!“, ruft Friedl in den Flur, wo sich gerade die Tür zum Badezimmer öffnet.

„Ich weiß, verdammt!“, schreit dein Sohn als Antwort und du hörst seine Zimmertür knallen.

„Was sagt sein Lehrer? Wird es besser?“, fragst du deine Frau.

Sie seufzt, „Seine Wutausbrüche werden weniger. Er spuckt nur noch selten Feuer im Klassenzimmer.“

„Na das ist doch eine gute Neuigkeit“, sagst du nicht ganz überzeugt. „Vielleicht sollten wir ihn doch zwei Wochen zu Pa schicken.“

„Nein!“, ruft Friedl wie jedes Mal, wenn du diesen Vorschlag anbringst.

„Aber Pa würde ihm das austreiben. Zwei Wochen und Dennis wird ein Vorzeigeschüler. Pa hat schon ganz anderen den Kopf zurechtgerückt.“

„Die Methoden deines Vaters sind ja auch unmenschlich!“

„Na ja, wir sind Drachen, natürlich sind seine Methoden für Menschen gefährlich.“ Du grinst Friedl an. Du reitest immer darauf herum, wenn sie solche Floskeln übernimmt, weil man sie eben sagt. Weil ihre – menschlichen – Freundinnen hier im Wohnblock sie benutzen.

„Dann eben undrachig!“, ruft Friedl und reckt das Kinn mit einem Schnauben nach oben. Dabei entweicht ihr eine kleine Wolke durch die hübschen schmalen Nüstern, was ein ohrenbetäubendes Piepsen auslöst.

„Nicht schon wieder der Feuermelder“, flucht Friedl und drückt den Knopf an dem kleinen weißen Plastik-Ufo an der Decke. Immerhin zerdrückt sie das Gerät nicht wieder. Das wäre der vierte tote Feuermelder in zwei Monaten gewesen.
Ihr hattet versucht, die Hausverwaltung davon zu überzeugen, dass es keine gute Idee wäre, diese nervenden Dinger in eurer Wohnung zu installieren. Aber die Dame im Büro hatte lediglich abschätzig gesagt: „Ihre Wohnung ist sogar die Wichtigste im ganzen Haus. Sie sind Drachen, Ihre Wohnung ist für Feuer am meisten gefährdet. Ich weiß schon, dass Ihnen die Flammen nichts ausmachen, aber denken Sie an die ganzen anderen Bewohner. Die verbrennen, wenn Sie aus Versehen die Gardinen in Brand stecken. Am besten, wir installieren zusätzliche Feuerlöscher in Ihrer Wohnung.“

„Wieso sollten wir die Gardinen anzünden?“, hatte Friedl entgeistert gefragt.

„Na, Sie sind doch Drachen, Sie speien eben Feuer“, hatte die Dame geantwortet und sie aus dem Büro komplimentiert.
Nicht die erste unsensible Situation eures Lebens. Es war schon schwer genug gewesen, die Wohnung überhaupt zu bekommen, weil alle Vermieter befürchtet hatten, ihr würdet das Haus in den ersten Wochen niederbrennen. Als ob Drachen ihre eigene Behausung anzünden würden. Das Bild, das über euch verbreitet ist und immer noch kursiert, ist sehr mittelalterlich. Ihr habt damals darauf geachtet, die Wände mit feuerfestem Spray zu behandeln und schwer entflammbare Möbel und Bodenbelag zu kaufen. Ihr wusstet, dass Ihr keine Probleme haben würdet, euer eigenes Feuer im Zaum zu halten, aber ihr habt damals schon an den Nachwuchs gedacht. Daran, wie junge Drachen gern ihr Feuer ausprobieren und dabei unfreiwillig Dinge in Brand setzen. Als Dennis‘ Wutausbrüche begannen, zahlten sich die vielen Vorkehrungen aus. Die Feuerlöscher habt ihr einzig und allein deswegen hin und wieder in Gebrauch und die Rauchmelder gehen in unpassenden Momenten los. Wenn Friedl kocht oder eben wie jetzt.

„Du musst bald los, Schatz“, sagt deine Frau etwas versöhnlicher und legt ihren Kopf kurz auf deinen.

Dennis rauscht vorbei, rollt sich schnell zwei Pfannkuchen zusammen und stürmt zur Tür hinaus.

„Ich frage mich wirklich, von wem er das mit den Wutausbrüchen hat“, seufzt Friedl nachdenklich. „Zuhause ist er gar nicht so aufbrausend, zumindest nicht mehr als ich es von einem pubertierenden Jungdrachen erwarten würde.“

„Vielleicht wird er von den Kindern gehänselt“, sagst du leise und stehst auf. Dass Menschen auf Drachen losgehen, ist nicht neu. Ihr seid nicht die einzigen eurer Art, die versuchen, sich anzupassen und zu integrieren, wie die Politik es nennt. Ihr tut euer Bestes, aber es gibt immer jemanden, der gegen euch ist. Selbst jetzt, nach über 70 Jahren, die ihr aus eurer Höhle in den Wäldern in die Stadt gezogen seid. Aber selbst eure große Lebensspanne macht den Menschen Angst. Und alles, was Menschen Angst macht, wird von ihnen angegriffen. Selbst wenn ihr nur am Bahnsteig steht und auf die U-Bahn wartet, ruft jemand die Polizei – euch ist das Fliegen aus Sicherheit für den Flugverkehr verboten worden, dabei ist Fliegen in zehn Kilometern Höhe sogar für euch ungesund.

„Noch ein Grund, warum ich nicht möchte, dass er zu deinem Vater geht“, sagt Friedl energisch. Als du sie fragend ansiehst, fährt sie fort: „Wenn er wirklich gehänselt wird, sollte er nicht von einem traditionellen Drachen gemaßregelt werden. Es geht um ein friedliches Miteinander und nicht darum, jeden aufzufressen, der einem auf die Nerven geht.“
Du stehst auf und richtest deine Krawatte – eine Sonderanfertigung, lang genug, um deinen breiten schuppigen Hals zu umschlingen. „Was empfiehlst du denn einem pubertierenden Drachen, der wegen seines Andersseins von Kindern gehänselt wird? Natürlich schlägt er um sich, weil er stärker ist und sich nicht anders zu helfen weiß. Und davor haben doch alle Angst. Vor unserer Stärke. Deswegen dürfen wir nicht fliegen und bekommen so schwer Wohnungen. Weil sie alle Angst davor haben, dass wir uns auflehnen und die Menschen wieder unterdrücken wie in der alten Zeit.“ Du bückst dich und greifst vorsichtig nach dem winzigen Aktenkoffer, der dich schon fast dein ganzes Arbeitsleben begleitet. Ein Geschenk von Friedl zum ersten Arbeitstag in der Behörde – natürlich feuerfest.

„Ich weiß nicht, was ich ihm raten soll, sonst hätte ich es getan, bevor er auf der Schule für schwer erziehbare gelandet ist.“ Friedl wirft hilflos die Hände in die Höhe. Eine Geste, die sie erst macht, seit ihr in die Stadt gezogen seid und immer öfter benutzt. Das hast du ganz genau beobachtet.

„Ich muss los, Liebling. Wir sehen uns heute Abend.“ Du drückst ihr einen Kuss auf die Wange und nimmst die Reste vom Frühstück mit. Den Teller mit den Essensresten stellst du auf den Balkon, wo du noch kurz eure beiden Katzen streichelst. Kasimir, ein schwarzer kurzhaariger Kater mit einer hässlichen Narbe an der Flanke, die seinen halben Körper verunstaltet; und Hasso, ein rot-schwarzer Angora-Kater, dessen Fellzeichnung irgendwie an Flügel erinnert. Hasso war ein Geschenk von Freunden hier im Haus gewesen. Kasimir dagegen ein Streuner aus dem Tierheim, den eure Tochter Sabine mit nach Hause gebracht hatte. „Weil ihn niemand gern hat. So wie mich“, hatte sie damals gesagt und du hast den Kater gern behalten, weil er das Glitzern in die Augen deiner Tochter zurückgebracht hat. Sie hatte auch eine Zeit gehabt, in der alle Kinder sie gemieden hatten. Weil sie der Drache in der Klasse war, das einzige Drachenkind im ganzen Jahrgang. Aber der Kater hatte ihr geholfen und Fotos von ihm waren ein guter Gesprächseinstieg gewesen und so hatte Sabine später Freunde gefunden.

Etwas schwerfällig erhebst du dich und verlässt, mit einem letzten Zwinkern in Richtung Friedl, die Wohnung. Du merkst deine 207 Jahre, während du auf die Treppe zugehst. Du würdest gern den Aufzug nehmen, aber du überschreitest die Maximalbelastung des kleinen Blechkastens. Und die drei Stockwerke nach unten fliegen darfst du auch nicht. Das hat dir vor fünf Jahrzehnten schon ein Bußgeld eingebracht, weil einer deiner Nachbarn dich gesehen und die Polizei gerufen hat. Du siehst heute noch den Lauf des Gewehrs vor dir, mit dem der Hobby-Jäger-Nachbar dich bedroht und an Ort und Stelle gehalten hat, bis die Polizei gekommen war. Nie wieder, hast du dir damals geschworen. Nie hättest du gedacht, dass die Stadt so viel gefährlicher sein könnte als die Region um eure Höhle. Aber die Tante hatte damals so geschwärmt von der fremden Welt. Du und Friedl, ihr habt an ihrer Angel gehangen, aber der Haken war schmerzhafter gewesen, als ihr gefürchtet hattet.

*

Auf dem Weg zur U-Bahnstation grüßt du durch das Schaufenster in die kleine Bäckerei an der Ecke. Ihnen hast du zufällig geholfen, vor 42 Jahren, zwei Monaten und sechs Tagen, das weißt du noch ganz genau. Der Ofen war ausgefallen und eine riesige Bestellung hatte angestanden, also hast du dich einen Tag lang an den Ofen gesetzt und ihn mit deinem Feuer auf Temperatur gehalten, bis alle 200 Semmeln und 50 Brote gebacken waren. Die Backstube war für die Menschen unerträglich heiß geworden und trotzdem waren sie dir dankbar gewesen. Dankbarkeit siehst du selten, deshalb hast du es dir so genau merken können.

Auf dem U-bahn-Bahnsteig erschrickt jemand, als du mühsam die Treppe herunterkommst. Wieso müssen die Stufen auch so schmal sein? Du wunderst dich nicht mehr darüber, dass Menschen vor dir erschrecken, du wunderst dich nur darüber, dass sie es immer noch tun. Schließlich fährst du jetzt seit 40 Jahren den gleichen Weg zur Arbeit. 40 Jahre und immer noch erschrecken Menschen vor dir auf demselben Bahnsteig. Du seufzt innerlich und grüßt den Erschrockenen freundlich mit einem kleinen Nicken, aber er lässt dich trotzdem nicht aus den Augen. Du hast vor langem gelernt, dass du Menschen nicht mit einem Grinsen grüßen solltest, auch wenn du es nur gut meinst. Der Anblick deiner unterarmlangen Reißzähne erschreckt sie erfahrungsgemäß nur noch mehr.

Die Fahrt mit der U-Bahn dauert nicht lange, du blockierst nur 10 Minuten lang einen halben Wagen. Du bist der Grund dafür, dass auf dieser Linie immer ein Wagen mehr angehängt wird als auf allen anderen Linien. Immerhin ist Rush Hour. Eine neumodische Bezeichnung, deren Bedeutung du nicht ganz erfassen kannst. Als du in der Stadt ankamst, hieß das noch Stoßzeit.

Nachdem du dich die winzigen Stufen wieder hochgequält hast, stehst du vor dem Stahlbetonbau, in dem du seit 40 Jahren arbeitest. Das Finanzamt. Du arbeitest aber nicht als Sachbearbeiter an einem Schreibtisch. Nein. „Ihre Talente können wir in einer anderen Abteilung viel besser gebrauchen“, hatte der Personaler damals gesagt und ein Pilotprojekt gestartet: Drachen als Steuerfahnder und Pfändungsbeamte. Nicht, dass du eine Chance auf Verbeamtung hättest, dafür lebst du viel zu lange. Außerdem gäbe es keine Richtlinien für die Verbeamtung von Drachen, hatte es damals geheißen. Man arbeite aber daran. Das sagen sie seit 20 Jahren. Du hast das Nachfragen aufgegeben.

„Achim! Guten Morgen!“, ruft dir ein Kollege am Eingang der Behörde zu und du winkst ihm. Michael ist ein netter Kerl, erst seit sechs Monaten hier. Der junge Mann hat sich schnell an dich schuppigen Kollegen gewöhnt, eine nette Abwechslung für dich.

Du kennst die Namen aller Beamten im Haus. Namen sind deine große Stärke. Zwar nicht die Gesichter, aber du verknüpfst sie mit ihren individuellen Gerüchen, deswegen bist du auch einer der ‚Auserwählten‘, der die Zwillinge Lana und Esther auseinanderhalten kann. Michael riecht immer nach dem Waschmittel seiner Mutter.

Wie jeden Morgen fragt dein junge Kollege dich auf dem Weg ins Büro neugierig aus. Eine weitere nette Abwechslung. Er ist immerhin ehrlich interessiert und möchte dich besser kennenlernen. Er fragt nicht, um einen Vorteil daraus zu schlagen oder die Information später gegen dich zu verwenden. Für solche Menschen hast du ein Gespür entwickelt. Seit du kurz nach eurem Einzug den falschen Menschen vertraut hast, die vorgaben, euch helfen zu wollen, um dann im richtigen Moment Gerüchte zu streuen, und euch die Wohnungssuche erschwerten, um selbst die guten Wohnungen zu bekommen.

„Wieso bist du hierher gezogen, Achim?“, fragt Michael heute. „Wieso in die Stadt zu den Menschen?“

„Ich bin wegen der Liebe hergezogen. Friedl fand die Stadt so schön. Neu und exotisch. Dann musste ich mir natürlich auch einen Job suchen, um Geld zu verdienen. Aber wer stellt schon einen Drachen ein? Sieh mich an, wir sind groß, grün und schuppig. Wir können fliegen und speien Feuer. Die meisten haben Angst vor uns.“

„Wie hast du den Job hier bekommen?“, fragt der junge Mann weiter. Er hängt gespannt an deinen Lefzen.

„Erst hab ich als Türsteher eines Nachtclubs gearbeitet, da war mein Aussehen natürlich von Vorteil. Ich war bekannt in der ganzen Szene. Zweimal hab ich sogar einen Job als Bodyguard eines Promis bekommen“, schwärmst du.

„Wow, wen hast du beschützt?“

„Brian Connolly.“ Stolz drückst du die Brust raus und musst dich gleich wieder vor einer tief hängenden Lampe ducken.

„Wer?“

Du stutzt. Wie kann jemand diesen Mann nicht kennen? Du merkst wieder einmal dein Alter. „Brian Conolly! Der Sänger von The Sweet!“

„Kenn ich nicht.“ Michael zuckt mit den Schultern.

Du schüttelst nur ungläubig den Kopf und biegst in dein Büro ab. Es ist ein spezielles Büro. Du bist der Einzige in der ganzen Abteilung, der ein Einzelbüro hat. Die Chefs hatten Angst, dass du jemanden abfackelst oder frisst. Obwohl du dich kleidest wie alle anderen und mehr als höflich bist – es aus Rücksicht damals schon warst – sahen sie immer nur den Drachen in dir. Egal wie sehr du dich bemüht hast. Sie haben dir wechselnde Partner zur Seite gestellt, immerhin kann man einen Drachen als Steuerfahnder nicht alleine auf die Welt loslassen. Obwohl du oft höflicher bist als deine menschlichen Partner. Keiner von ihnen hat es so lange mit dir ausgehalten wie deine jetzige Partnerin: Renate Singer. Sie hatte sogar einen Schreibtisch in dein Büro stellen lassen wollen, aber der Bereichsleiter hatte es untersagt. Man könne das Risiko nicht eingehen. Da hatte sie den Tisch einfach selbst in das Zimmer geschoben und am Boden verschraubt, damit das Möbelstück an Ort und Stelle bleiben musste. Sie kann sehr trotzig sein. Du stellst den Aktenkoffer auf deinem steinernen, feuerfesten Schreibtisch ab und wünschst deiner Partnerin einen guten Morgen.
Sie erwidert den Gruß und kommt sofort zur Sache: „Wir haben heute wieder einen Fall, dem wir einen Hausbesuch abstatten müssen.“ Renate gibt dir lächelnd eine Akte. Du bekommst immer nur Kopien, weil du in deiner ersten Woche aus Versehen eine Originalakte angezündet hast. Aber keiner wollte auf dich hören, als du beteuert hast, dass der winzige Flammenball – er war wirklich winzig gewesen! – deiner Nervosität geschuldet war.

„Sie heißt Marina Stelzmüller. Ihre Steuernachzahlung ist überfällig und sie will ihre Vermögensverhältnisse nicht offenlegen. Wir haben die Vermutung, dass mit den Büchern ihres kleinen Schmuckladens etwas nicht stimmt, deswegen sollen wir beide vorbeigehen“, erklärt deine Partnerin, während du die Akte durchsiehst. Sie rückt ihre Brille auf der Nase zurecht. Ein Tick, den sie selbst nicht bemerkt.

„Da soll ich mit?“, fragst du irritiert und musterst das Foto der Frau mittleren Alters. „Die Arme erschreckt sich doch zu Tode.“

Renate sieht dich verständnisvoll an. „Ich glaube auch nicht, dass du unbedingt mitkommen musst, aber Konrad will es so. Du gehst bald in Rente und er hat nicht viel Schreibtischarbeit für dich, sagt er. Und er hat Angst, dich hier alleine rumsitzen zu lassen.“ Sie zuckt mit den Schultern und lächelt dich an. „Und ich freue mich über deine Gesellschaft.“

Du erwiderst das Lächeln – sie erschreckt sich nicht vor deinen Zähnen – und wartest, während Renate ihren Mantel holt und wieder einmal ihre Hornbrille zurechtrückt. Gemeinsam macht ihr euch auf den Weg nach draußen. Frau Stelzmüllers Wohnung liegt am anderen Ende der Stadt. Ihr werdet mit der U-Bahn hinfahren, so wie immer. Das gefällt dir an Renate. Du hattest schon Partner, die alleine mit dem Auto losfuhren und dich mit der U-Bahn oder zu Fuß nachkommen ließen. Nicht sie. Sie fährt immer mit dir in den stickigen Waggons. Der Bahnsteig ist kaum gefüllt um diese Zeit, die Bahn wird recht leer sein. Genau der Grund, wieso ihr Hausbesuche vormittags macht.

Renate schiebt ihre Brille höher, streckt sich neben dir und drei ihrer Wirbel knacken. „Es wäre so viel einfacher, wenn du fliegen dürfest. Dann wären wir viel schneller. Ich würde so gerne mal auf einem Drachen reiten. Weißt du, als Kind hab ich die Eragon-Reihe verschlungen. Ich wollte durch die Luft fliegen wie er und Saphira.“ Ihr Gesicht blüht mit einem träumerischen Ausdruck auf und du nimmst dir vor, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Wenn du in Rente bist, wirst du sie auf einen Ausflug in die Wildnis mitnehmen und auf deinem Rücken tragen. Als Dankeschön dafür, dass Renate nett zu dir ist und keine Angst hat. Du wünschst dir oft, dass du sie früher als Partnerin bekommen hättest, dein Leben wäre angenehmer verlaufen.

*

„Da sind wir.“ Renate stemmt die Hände in die Hüften und rückt die Hornbrille zurecht. Ihr steht vor einem netten, schmalen Altstadt-Haus, das ein paar kleinere Renovierungen nötig hätte.

Deine Partnerin klingelt und spricht in die Gegensprechanlage: „Hier ist das Finanzamt. Machen Sie bitte auf, Frau Stelzmüller.“ Keine Antwort. Renate drückt den Klingelknopf wieder und sagt ihren Satz auf. Du stellst dich auf die Hinterbeine, richtest dich zu voller Größe auf und spähst durch die Fenster im ersten Stock. Einer der Vorhänge bewegt sich und ein erstickter Schrei ertönt. Dann ein Poltern, bevor die Tür aufgerissen wird.

„Was wollen Sie von mir?“, ruft die arme Steuersünderin verschreckt.

„Wir würden uns gerne Ihre Vermögensverhältnisse ansehen“, antwortet deine Partnerin lächelnd. „Keine Sorge, der Drache ist handzahm. Sein Name ist Achim Rüdiger.“

Frau Stelzmüller entspannt sich sofort. Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Ein Drache namens Achim Rüdiger?“ Sie mustert dich skeptisch. „Bei dem Aussehen sollte er doch eher ‚Meseth‘ oder ‚Sharok‘ heißen? Oder ‚Saphira‘.“ Ihr Ton ist abwertend und verpasst dir den gewohnten Stich. Du wirst dich niemals dran gewöhnen.

„Als wir hergezogen sind, haben wir unsere Drachennamen abgelegt und Menschennamen angenommen“, erklärst du mit deiner donnergleichen Stimme, die die Frau dann doch zusammenzucken lässt. Du senkst die Stimme.

„Drachennamen sind für Menschen schwer auszusprechen. Das Grollen und Fauchen unserer Sprache ist für euch nicht möglich.“

Frau Stelzmüller schnaubt verächtlich und murmelt etwas von „Wurzeln verleugnen“.

„Dürfen wir reinkommen, Frau Stelzmüller?“ Renate drängt sich an der Steuersünderin vorbei und ist im Haus, ohne auf eine Antwort zu warten.

Du folgst vorsichtig, legst die Flügel an und faltest deinen großen Körper durch die kleine Tür. Widerwillig führt die Hausherrin deine Partnerin in ihr Arbeitszimmer zu den Unterlagen. Du legst dich auf das Parkett in dem ausladenden Eingangsbereich, der die Diele, eine offene Küche und ein offenes Wohnzimmer umfasst. Vorsichtig parkst du dich rückwärts zwischen die Küchentheke und den antiken Wohnzimmertisch ein, rollst den Schwanz um das Sofa und versuchst eine halbwegs bequeme Position zu finden. Hoffentlich kannst du dich noch bewegen, wenn Renate fertig ist. Die Decken dieses Altbaus sind unterdurchschnittlich niedrig und zwingen dich, flacher als sonst auf dem Boden zu liegen. Wie eure Katzen, wenn sie sich unter den Möbeln verstecken. Die Nähte deines Anzugs knacken gefährlich, geben zum Glück aber nicht nach. Dir ist aber schmerzhaft bewusst, dass du jetzt mehr wie eine große Katze aussiehst als ein furchterregender Drache. Du wartest nur noch darauf, dass eure gehässige Steuersünderin dir ein Schälchen Milch vors Maul stellt. Aber Frau Stelzmüller bringt nur Renate eine Tasse Kaffee und zeigt ihr die Ordner. Deine Partnerin wird eine Weile beschäftigt sein, so eingeklemmt bist du ihr keine große Hilfe.

Frau Stelzmüller macht es sich in einem Stuhl neben dir bequem, nippt an einer Tasse Lavendeltee – du erkennst ihn am starken Geruch – und mustert dich unverhohlen.

„Ich dachte, das Drachenprogramm des Finanzamts wäre nur ein Gerücht“, fängt die Dame an. „Hat dir das Amt eine Wohnung gestellt? Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand eine Wohnung an einen Drachen vermietet.“

Dich stört, dass sie dich duzt, aber du weißt aus Erfahrung, dass solche Menschen nur schnippisch werden, wenn du sie darauf hinweist. „Wir haben eine Wohnung in einem Wohnkomplex.“ Ist alles, was du antwortest.

„Wir?“, fragt Frau Stelzmüller und zieht die Augenbrauen hoch. „Hast du deine ganze Sippe nachziehen lassen? Habt ihr kein eigenes Land?“

„Die Menschen nehmen unser Land immer mehr ein. Sie drängen uns immer weiter zusammen und die Konflikte zwischen den Familien nehmen zu. Wir sind hierher gezogen, bevor kein Platz mehr für uns war.“ Du bist offen, weißt aber, dass die Frau nur einen Bruchteil davon hören wird. Es ist nicht deine erste Diskussion dieser Art und wird nicht die Letzte bleiben.

„Ach nun sind wir wieder Schuld?“

Du zwingst dich, nicht die Augen zu verdrehen. Sie öffnet den Mund für einen weiteren bösen Kommentar, wird aber von Renate gerufen.

In Gedanken bedankst du dich bei deiner Partnerin für die Pause. Nach ein paar Stunden entscheidest du dich, die Position zu verändern. Du legst deinen Schanz durch die Länge der Diele bis zur Haustür und wechselst dein Körpergewicht von der einen auf die andere Seite, während du hoffst, dass Renate bald fertig ist. Die Rettung für deine gequälten Muskeln kommt allerdings zu einer anderen Türe herein.

Kurz nach Mittag wird die Haustüre mit einem Knall aufgeschlagen und ein junger Mann mit einem langen zweischneidigen Schwert – gut verarbeitet, so eins hast du lange nicht mehr gesehen – steht im Flur. Dein erster Gedanke ist: „Nicht schon wieder“. Er schreit etwas, aber du hörst nicht zu, kennst den Text schon auswendig. Renate und Frau Stelzmüller kommen angerannt und beobachten die Szene überrascht, wobei du bemerkst, dass deine Partnerin genervt die Augen verdreht.

Du hast die Wahl: Frisst du ihn oder erschlägst du ihn mit deinem schuppigen Schwanz? Du entscheidest dich für keins von beidem, solltest dich in Zurückhaltung üben. Nicht noch ein Rüffel vom Bereisleiter diesen Monat. Du stößt einen tiefen Seufzer aus und grillst ihn versehentlich mit deinem Drachenfeuer.

„Achim! Das ist schon der Dritte diesen Monat!“ Renate fährt sich mit einer Hand übers Gesicht. Der Papierkram dafür wird dich bis zur Rente beschäftigen.

Du entschuldigst dich, ohne es ernst zu meinen. „Mit dem Alter werden wir etwas inkontinent“, versuchst du einen Scherz, aber Frau Stelzmüller steht nur da und starrt ihren rußgeschwärzten Flur an. Renate zückt seufzend ihr Handy und wählt den Notruf.

*

Bis ihr ins Finanzamt zurückkehrt, ist es fast dunkel.

„Hey, ich hab schön gehört, was passiert ist!“ Michael kommt dir lachend entgegen. Er findet es witzig, wenn du dich gegen Drachengegner wehrst – aus Versehen noch dazu. Seiner Meinung nach haben sie es verdient. Du bist zu müde, um jetzt noch Späße zu machen oder überhaupt darüber zu reden. Du nimmst dir deinen Aktenkoffer, verabschiedest dich und faltest dich wieder in die U-Bahn nach Hause.

*

Mit einem Ächzen setzt du dich an den Esstisch zu deiner Familie. Dennis sitzt dir gegenüber und spielt schon ungeduldig mit dem Besteck. Es dauert nicht lange, bis Friedl den Truthahn auf den Tisch stellt.

„Wie war es heute in der Schule?“, fragst du deinen Sohn.

Er grummelt etwas und du musst ein zweites Mal fragen, ehe er erzählt, dass er sich heute nicht geprügelt hat. Du erzählst von deinem Ausrutscher mit dem Helden, und anstatt wie früher darüber zu schimpfen, dass du besser hättest aufpassen sollen, oder, dass die Menschen euch nie verstehen werden, sacken nur die Schultern deiner Frau nach unten. Ebenfalls eine neue Geste, Friedl zeigt sie erst seit ein paar Jahren. Weil sich nichts ändert. Weil es eben nicht besser wurde, wie die Tante es vor 50 Jahren versprochen hatte. Irgendwann hat sie das Hoffen wohl aufgegeben.

Friedl erzählt von einem Treffen mit ihren Freundinnen im Haus und dass eure Tochter Sabine angerufen hat. Der Rest des Essens verläuft im typischen Schweigen. Sabine ist diejenige, die am Tisch jedes einzelne Detail ihres Tages erzählt. Jetzt, da sie zu ihrem Verlobten gezogen ist, herrscht an eurem Tisch meistens Stille.

Nach dem Essen setzt du dich in deinen alten Ohrensessel – Spezialanfertigung, damit dein Schwanz und deine Flügel eine bequeme Position beim Sitzen haben – und schlägst die Zeitung auf. Friedl macht den Abwasch und setzt sich dann mit einem Buch auf die Couch. Dennis liegt auf dem Boden und blättert in einer Zeitschrift.

„Vater?“, fragt dein Sohn plötzlich.

Du siehst überrascht von deiner Zeitung auf, er spricht dich abends selten an. „Ja, mein Junge?“

„Wann hast du das letzte Mal eine Jungfrau entführt?“

„Warum willst du was denn wissen?“, fragst du. Du hast ihm Geschichten aus deiner Jugend erzählt, als er noch ein Junges war. Kurze bunte Gute-Nacht-Geschichten. Aber du hast später nie wieder darüber gesprochen, weil Friedl Angst hatte, dass Dennis auf Menschen losgehen könnte.

„Wir haben im Unterricht eine Geschichte gelesen. Eine Frau wurde von einem Drachen entführt und der Drache war der Böse und musste getötet werden. Du hast mir früher auch Geschichten erzählt, aber wir waren nicht die Bösen. Also wann hast du das letzte Mal eine Jungfrau entführt?“

Du holst nostalgisch ein kleines Fotomäppchen aus der Tasche, das du immer bei dir trägst. Du hast alle Fotos der „guten alten Zeit“ aufbewahrt. All die Hübschen, die du dir selbst ausgesucht hast – und die Hässlichen, bei denen du beauftragt worden warst. Zu den Hübschen hatte es kostenfrei einen Snack gegeben. Mit passendem Zahnstocher. Die Hässlichen hatte meistens niemand abgeholt, die hast du dann als Festschmaus gekocht, um die Damen zu beeindrucken. Oh da ist sie ja, die üppige Waltraut. Bei der hast du dir damals so viel Mühe gegeben. Eine von den Hübschen. Sogar den Helden-Snack hast du nicht sofort verspeist, sondern gefangen und aufgehoben. Von ihm hast du ausnahmsweise auch ein Foto, denn die beiden waren das erste Essen für Friedl gewesen. Nach der ersten Verabredung. Ein wunderschöner Abend.

„Das ist schon über 70 Jahre her“, sagst du knapp.

„Hast du hier in der Stadt keine mehr entführt?“

„Nein. Wir leben mit Menschen zusammen, wir dürfen sie nicht mehr essen.“

Dennis nickt langsam. „Vermisst du es? Das Leben in den Wäldern?“

Du stockst und wirfst deiner Frau einen Blick zu. „Ja, ich vermisse es. Es war einfacher.“

„Wieso gehen wir dann nicht zurück? Ihr hattet doch eine Höhle und ein Jagdgebiet?“

„Dennis, darüber haben wir doch schon gesprochen“, mischt Friedl sich von der Küchentür aus ein. „Wir können nicht zurück.“

„Aber du hast nicht erklärt, warum, Mutter.“ Erwartungsvoll sieht Dennis dich an.

„Weißt du, mein Junge …“ Du seufzt schwer, denn du denkst nicht gern daran, dass euch nichts anderes bleibt, als weiter in der Enge der Stadt zu leben. „Das Gebiet unserer Familie wurde von den Menschen in Beschlag genommen. Pa lebt auf dem Gebiet von Freunden. Es gibt kein Zurück für uns.“

„Sie nehmen uns das Zuhause weg und schikanieren uns dann.“ Er schnaubt und ihm entfleucht dabei weder eine Rauchwolke noch eine Stichflamme.

Du wartest darauf, dass er noch etwas sagt, andeutet, dass er darüber noch weiter sprechen will, aber Dennis hebt energisch sein Magazin vom Boden auf und stürmt in sein Zimmer.

Friedl lässt sich mit einem verzweifelten Laut in den anderen Sessel fallen und sagt nichts weiter. Dir fällt nichts ein, was du ihr sagen könntest. Du hast ihr in den letzten 70 Jahren alles gesagt. All die unerfüllten Hoffnungen und Wünsche, die leeren Phrasen, die du von dir gegeben hast, sie stehen ungesagt im Raum. Füllen die Stille mit lautem Schweigen, bis deine Frau irgendwann aufsteht und ins Schlafzimmer geht. Du folgst ihr, schlüpfst wieder in den Pyjama, gibst Friedl einen Gute-Nacht-Kuss und stellst den Wecker. Wie jede Nacht dauert es nur ein paar ruhige Atemzüge, bis du einschläfst.

Und morgen wieder genau dasselbe.

Spiel mir das Lied … von der Telefonzentrale

CW: Tod, Erwähnung von Suizid

Ein VW-Bus bei Nacht auf einer Straße. Über ihm der Mond hinter Wolken.
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Er lehnt an der Wand in einer kleinen Gasse, die schwarze Kapuze tief ins blasse Gesicht gezogen. Er spielt mit einem Pokerchip zwischen den langen dünnen Fingern. Ein Souvenir von einem seiner Gäste. Der Chip ist schon ein paar Jahrzehnte alt, abgegriffen weil er ständig damit herumspielt, wenn er warten muss. Man sollte meinen, dass er nicht viel Freizeit hat, aber die Zeitrechnung auf der anderen Seite ist eben nicht immer genau. Manchmal kommt er zu früh, so wie jetzt.

Zum fünften Mal zieht er sein Notizbuch aus der hinteren Hosentasche und überprüft den aktuellen Namen. Hanna Ortego. Er schließt das Buch wieder und streicht über den grauen Einband. Dracula steht auf der Vorderseite, in dunkelroten Buchstaben. Er hat das Büchlein vor kurzem in einem Laden entdeckt und sowieso ein neues gebraucht – und immerhin hatte er Bram Stoker damals persönlich abgeholt und an die Pforte gebracht.

In der Bauchtasche seines schwarzen Pullovers miaut es leise und der Kopf eines kleinen, rot gestreiften Kätzchens taucht auf.

„Keine Sorge, Hades. Wir sind nicht mehr lange hier.“ Er krault das Kätzchen zwischen den Ohren und es schnurrt zufrieden.

„Die ist ja süß!“ Ein dunkelhäutiges, 16jähriges Mädchen steht vor ihm.

Er wirft wieder einen Blick in sein Notizbuch und fragt: „Hanna Ortego?“

„Sí, Sínor!“, antwortet das Mädchen grinsend.

„Ich bin hier, um dich zu holen. Folge mir.“ Er steckt das Dracula-Notizbuch weg und geht voraus.

„Um mich zu holen? Sind wir verabredet?“, wiederholt das Mädchen verwirrt.

Er bleibt stehen und dreht sich wieder zu ihr um: „Du weißt es noch nicht?“

„Was meinen Sie?“

Das klingt nach Überstunden. Mit einem genervten Seufzen holt er das Kätzchen aus seiner Känguru-Bauchtasche – er hatte sie sich extra anpassen lassen, damit Hades gemütlich darin schlafen kann. „Hier, halt Hades.“

Das Mädchen nimmt lachend das Tier an sich: „Hades? Ernsthaft?“

„Hanna, du bist tot. Ich bin hier, um dich mitzunehmen. Ins Jenseits.“ Er sagt es ruhig, leiert es herunter, weil er es ständig sagen muss. Wieso merken die meisten Menschen nicht, dass sie sterben?

Hades – oder Hatty, wie er sie manchmal liebevoll nennt – wird in Hannas Fingern fast zerquetscht, als ihr Verstand die Nachricht verarbeitet. Erschrocken lässt sie das Kätzchen fallen und entschuldigt sich gleich dafür.

„Keine Sorge, du kannst ihr nichts tun. Hades ist auch tot.“ Er fängt das Tier auf und krault es unter dem Kinn. Da hat sie es gern. „Sie wollte die Barke nicht besteigen und ich war einsam, also kümmere ich mich um sie.“

„Was bist du?“, fragt das Mädchen misstrauisch. Sie weiß nicht, ob sie über den Kerl in schwarz lachen, oder sich vor ihm fürchten soll.

Er seufzt wieder, zieht einen zerknitterten Zettel hervor und leiert wieder: „Man nennt mich den Tod. Ich sammle die Seelen ein und bringe sie zum Fährmann, der dich ins Jenseits bringt. Wie ich bei den Amerikanern immer sage: Call me Deaddy.“ Hanna starrt ihn mit offenem Mund an, aber er zuckt nur mit den Schultern: „Ich habe denen in der PR-Abteilung gesagt, dass es ein schlechter Witz ist. Sie wollen trotzdem, dass ich ihn erzähle.“

„PR-Abteilung?“ Der sprichwörtliche Bahnhof ist ihr praktisch ins Gesicht gemalt.

Er dreht auf den Fersen um und geht los: „Also wenn du ins Jenseits weiter willst, kommst du jetzt mit mir.“ Er steuert auf einen alten VW-Bus zu, der nur noch von Klebeband zusammengehalten wird. Man sieht es ihm nicht an, aber er fährt immer noch zuverlässig.

„Warte! Kommt jetzt nicht die herzerwärmende Szene, in der der Tod sich darum kümmert, dass die tote Seele Abschied nehmen kann, damit sie nicht als Rachegeist zurückbleibt?“, ruft Hanna und holt zu ihm auf.

„Dafür hab ich seit der Erfindung des Krieges keine Zeit mehr. Steig ein, oder bleib hier. Mein Zeitplan ist zu eng für falsche Tränen und rührseliges Gelaber.“ Er zieht die hintere Tür auf und schubst das Mädchen auf die erste Reihe der Rückbank. Dann setzt er sich hinters Lenkrad.

Der Bus erwacht ratternd zum Leben. Er ist auch ein Souvenir eines Gastes. Hauptsache, der Tod kann viele Leute gleichzeitig zur Barke bringen. Effektivitätssteigerung. Noch so ein tolles Wort, das sich die PR-Abteilung ausgedacht hat, zusammen mit dem HR. Seit die Kriegswaffen immer effektiver werden, bekommt er stetig mehr Arbeit. Deswegen hatte man vor ein paar Dekaden den alten Charon aus dem Ruhestand geholt. Damit der Tod die Seelen nicht mehr bis zur Pforte bringen muss. Arbeitsteilung nennen sie das. Außerdem kosten Altersteilzeitkräfte nicht so viel wie ein Neuzugang, den man erst einarbeiten muss. Charon kennt den Weg schon.

Hades in seiner Bauchtasche miaut wieder.

„Kann ich sie halten?“ Ein kleiner rotblonder Junge sitzt in der hintersten Reihe. Busunfall in einem nordenglischen Dorf. Ihm hat er sich wenigstens nicht vorstellen müssen. Der Junge hatte sofort verstanden, dass er tot ist. Helles Köpfchen, schade drum.

„Gib dem Knirps das Vieh. Er fragt schon die ganze Zeit danach.“ Ein breitschultriger Russe eine Reihe vor dem Jungen. Erfroren in der Tundra. Er streckt seine blauen Hände nach dem Kätzchen aus, will es weiterreichen.

„Nein! Ich will Hades halten! Ich hab sie am meisten verdient!“ Eine junge blonde Frau neben dem Russen. Amerikanerin. Hübsch, aber etwas nervig. Erschossen bei einem Amoklauf. Sie redet ständig vom Bowling Green Massaker, aber an das kann er sich einfach nicht erinnern. Dabei müsste er sich an so viele Seelen erinnern können, er hätte den Bus bis unters Dach voll gehabt.

„Der Kleine hat schon was zum kuscheln!“, ereifert sich die Blondine.

Ein Knurren kommt von der letzten Bank. Ein Grizzley-Junges neben dem kleinen Engländer. Von Wilderern getötet. Eigentlich nimmt er keine Tiere mit, für die ist er nicht zuständig – im Gegensatz zu den Menschen finden die Tiere den Weg zur Pforte ohne Hilfe. Aber hin und wieder, wenn ihm langweilig ist, nimmt er ein wildes Tier mit. Nur, um zu sehen, wie seine anderen Gäste reagieren.

Hanna setzt sich unsicher in die erste Reihe, ganz nah ans Fenster. So geht es jedem Neuzugang in seinem Bus, aber sie lernen sich alle schnell kennen. Oder prügeln sich. Er kann sich noch gut daran erinnern, wie er Osama Bin Laden abgeholt hat. Er hat den Fehler gemacht, die Amerikaner vorher nicht auszuladen. Eine wüste Prügelei war entstanden. Die Toten können nicht sterben, aber sie hätten fast den Bus zum Umkippen gebracht. Oder die fünf Kerle, die er vom Spring Break abgeholt hatte – Alkoholvergiftung gepaart mit unterschiedlichen Drogen – die um Teufel komm raus wieder high sein wollten und versuchten, die Sitzpolsterung zu rauchen. Er könnte jahrelang Geschichten erzählen.
Er nimmt das Kätzchen aus der Bauchtasche und setzt es auf seine Schulter, als er den Wagen auf die Straße lenkt. Hades steuert zielstrebig auf den Beifahrersitz zu, wo ein stilles, schwarzhaariges, blasses Mädchen sitzt. Mit ihren schwarzen Klamotten wäre sie perfekt für seinen Job. Selbstmord in Norwegen. Sie wird zwar mit den anderen zu Charon kommen, das Jenseits aber durch den Angestellteneingang betreten. Selbstmörder landen alle im bürokratischen Apparat – in der Hölle wie die Lebenden es nennen. Er beneidet sie nicht darum, aber sie wird einer weiteren Idee der PR-Abteilung zum Opfer fallen: Selbstmord als Bewerbung. Ja, so manche Umstrukturierung schafft eben auch Arbeitskräftemangel.

Er zieht sein Dracula-Notizbuch aus der Tasche. Nächster Halt: Kroatien. Zwei oder drei wird er noch in seinen Bus setzen, dann wird er zu Charon fahren und die Fuhre auf die Barke bringen. Er muss ausladen, sonst passen die vielen Toten aus dem Kriegsgebiet, die dann auf der Liste stehen, nicht rein.
Er sieht in den Rückspiegel. Hanna, das krebskranke Mädchen aus Spanien freundet sich schon mit den anderen an. So sehr er die Maßnahmen der Oberen auch hasst, mit so vielen zu Reisen macht ihm doch mehr Spaß als früher.

„Da sollen wir einsteigen?“ Die Amerikanerin starrt angewidert auf die alte, schmucklose Holzbarke, die vor ihr im ruhigen Wasser liegt. Der kleine Engländer mustert indessen neugierig Charon, der neben der Barke am Steg steht. Sie hatten ihn nicht davon abbringen können, die ehemals schwarze, abgerissene, zerfledderte, ausgewaschene Kutte gegen etwas Neueres auszutauschen. Er ist eben der traditionelle Typ. Das riesige Kleidungsstück hängt an seiner klapperigen Figur herunter wie ein zerfetztes Laken an einer Vogelscheuche. Er sieht wirklich aus wie ein Reaper.

„Hier.“ Der Tod streckt Charon ein Klemmbrett hin. Der Lieferschein. Der alte Gott setzt sein Zeichen und mustert seine Fracht.

„Habt ihr euren Obulus griffbereit?“, fragt er. Seine Stimme klingt, als würde man zwei Schmirgelpapiere aneinander reiben. Die Seelen schauen ihn an wie eine Herde Schafe, bis er in schallendes, raspelndes Lachen ausbricht.

„Nur ein Scherz aus alten Zeiten. Kommt schon, steigt ein.“ Er hält die blasse Selbstmörderin fest und zieht einen Stempel aus den Falten seiner Kutte. Der alte Fährmann holt aus und stempelt dem Mädchen das Wort Sonderzustellung auf die Stirn. Damit er daran denkt, sie am Hintereingang abzusetzen. Er wird immer vergesslicher. Das Mädchen protestiert kurz, sagt aber nichts weiter.

„Wie geht’s Hades?“, fragt Charon.

Das Kätzchen streckt den Kopf aus der Bauchtasche und schnurrt. Zwei knochige Finger strecken sich nach ihr aus und kraulen sie unter dem Kinn. „Bis zum nächsten Mal, Deaddy.“ Er lacht wieder.

Der Tod hebt die Hand zum Gruß und steigt wieder in seinen VW-Bus. Er zieht sein Dracula-Notizbuch heraus und mustert die Einträge. Er streicht Hanna Ortego durch. Es hat sich wieder etwas geändert. Noch mehr Tote im Kriegsgebiet, er wird zweimal fahren müssen. Schon wieder Überstunden. Nicht, dass er jemals frei hätte. Gestorben wird immer.

Er schnallt sich an und zieht ein altes Nokia 3310 aus dem Handschuhfach, während Hades sich auf dem nun leeren Beifahrersitz zusammenrollt. Der Tod drückt eine Schnellwahltaste und hört die Warteschlangenmusik: Ode to Death von Gustav Holst. Er wiegt sich im Rhythmus der klassischen Musik hin und her, summt mit, weil er die Melodie längst auswendig kennt. Nach fast 100 Jahren könnte man die Warteschleifenmusik endlich tauschen. Etwas Neueres nehmen. Seit 50 Jahren wirft er Songtitel in das Beschwerden-Kästchen der PR-Abteilung, aber es hilft nichts. Die Ode an den Tod sei so viel passender, da wäre nichts vergleichbares.

„Telefonzentrale, Sie sprechen mit Thot“, nuschelt endlich eine trötende Stimme. Muss am Ibiskopf liegen. Der ägyptische Gott des Wissens und der Schreiber. Er ist auch ein Opfer der Altersteilzeit, hält sich aber weit besser als der Fährmann. Vielleicht vergisst er auch nichts, weil er die Angewohnheit hat, alles aufzuschreiben, natürlich in Hieroglyphen. Niemand kann seine Memos lesen. Er könnte auch in einer verständlicheren Schrift schreiben, aber er liebt es, seine Mitgötter und den ganzen Verwaltungsapparat zu ärgern und aufzuhalten.

„Hier ist dein Namensvetter“, antwortet der Tod mit seiner üblichen Floskel. „Ich hab eben eine Ladung bei Charon abgesetzt. Er ist jetzt unterwegs.“

„Gut, ich gebe Anubis Bescheid“, nuschelt Thot. Anubis. Seit niemand mehr die Toten in Bandagen wickelt, ist er arbeitslos und kümmert sich jetzt um die Einkleidung und Führung der Neuankömmlinge. Wenn man von dem Hundekopf absieht, ist er ein toller Rezeptionist. Bei dem Gedanken zuckt der Tod mit den Achseln.

„Verbindest du mich mit der Verwaltung?“, bittet er Thot.

„Verbindung mit der Verwaltung, kommt sofort.“ Die trötende Stimme wird wieder von der Ode an den Tod abgelöst.

Er wartet weitere fünf Minuten in der Warteschlange, bis eine alte, aber diesmal weibliche Stimme sich meldet: „Zentralverwaltung, Hel am Apparat.“

„Ich bin’s“, antwortet der Tod.

„Was gibt es?“, kommt die inoffizielle Leiterin des Jenseits sofort zur Sache. Er hört das Klackern einer Tastatur. Sie hat immer viel zu tun. Die Seelen koordinieren, die Belegung der verschiedenen Jenseitsbereiche überwachen und ihre Mitarbeiter kontrollieren. Sie ist eine von der Sorte, die zwar delegieren, insgeheim aber keine Verantwortung abgeben kann. Würde Hades seine Arbeit etwas ernster sehen, hätte sie nicht so viel davon.

„Ich hätte gern einen größeren Bus oder ein Flugzeug und ein neues Telefon. Und Spielzeug für meine Katze. Und einen Tag frei“, antwortet er grinsend.

„Du weißt, dass wir unsere Technologie nicht auf die andere Seite mitnehmen können, das gilt in beide Richtungen“, entgegnet Hel genervt. „Und wir können die Leute nicht einen Tag lang nicht sterben lassen.“

Er lacht. Er versucht jedes Mal, einen Witz zu reißen, aber eher stirbt Hades, als dass Hel zu einer lustigen Gottheit wird.
„Charon ist eben mit der neuen Fracht losgefahren. Eine neue Bewerberin ist dabei“, sagt er deswegen wieder ernst.

„Noch eine Seele mit einem Stempel auf der Stirn? Ich werde sie abholen lassen. Hoffentlich vergisst er nicht wieder, sie abzusetzen.“ Hel seufzt. „Wo ist deine nächste Anlaufstelle?“

„Kriegsgebiet. Es kommt viel Arbeit auf uns zu“, antwortet der Tod.

„Sieh es mal so: Wir sind der einzig stabile Arbeitgeber. Wir werden immer Arbeit haben. Gestorben wird immer.“

„Hauptsache die Zahlen stimmen, was?“ Er stößt ein kaltes Lachen aus und beendet das Telefonat.
Mit einem Seufzen greifen seine Hände das Lenkrad. Auf zu den nächsten Seelen, die er abholen soll.